Eine wichtige Aufgabe eines Historikers ist es, über seine eigene Arbeit zu reflektieren. Meistens geschieht dies ganz unbewussst, doch hier an dieser Stelle möchte ich versuchen, meine Reflektion offenzulegen.
Genauer möchte ich danach fragen, was der Historiker eigentlich so macht, wenn er Geschichte betreibt und damit auch wie und warum er an historische Themen herangeht?
In einem zweiten Schritt frage ich dann, was meine eigenen Vorstellungen von Geschichte und Vergangenheit sind und unter welchen Voraussetzungen/ Vor-Annahmen ich Geschichte betreibe?
Zunächst: Was ist eigentlich der Gegenstand der Geschichtswissenschaft?
-> Der Mensch und seine Handlungen, Wirkungen, Ideen, Gefühle etc.
Die Geschichtswissenschaft ändert daher ihren Fokus auf den Menschen mit dem Wandel von Menschenbildern und ist damit gegenwartsgebunden. Es ist unmöglich einen absolut neutralen Standpunkt einzunehmen. Historiker sprechen von der Standortgebundenheit.
Zum ersten Fragenkomplex:
Es gibt mehrere Wege, auf denen sich Historiker der Vergangenheit nähern, typische Fragen sind etwa:
Wie war etwas? (faktische, oft chronologische Beschreibung der Ereignisse, je nach Quellenlage relativ eindeutig möglich)
Warum war etwas? (Motivation der Beteiligten, historischer Kontext => keine abschließende Antwort möglich, da immer neue Sichtweisen gefunden werden)
Was bedeutet etwas? (Meiner Meinung nach die Grundfrage der Geschichtswissenschaft, die jedoch stark abhängig von gegenwärtigen Entwicklungen ist. Antworten auf diese Frage sind immer subjektiv, entsprechend der jeweiligen Zeit, Gruppe und Fragestellung des Historikers. Spannend sind Annäherungen an diese Frage aus vielen, unterschiedlichen Perspektiven: z.B. was bedeutete die Frz. Revolution für das französische Volk in Paris, für die Dynastie der Bourbonen oder für die europäische Eliten?)
Was machte der Mensch der Vergangenheit? (-> unterschiedliche Forschungsrichtungen (Politik, Wirtschaft, Kultur…) betrachten unterschiedliche Aspekte des menschlichen Lebens und können sich (rein theoretisch) gut ergänzen zu einem Gesamtbild; rein praktisch wird jedoch häufig das Primat beansprucht.
Ein universaler Ansatz könnte möglicherweise alle Perspektiven nacheinander angehen und danach fragen, wie der Gegenstand von einem Politikhistoriker, einem Wirtschaftshistoriker, einem Sozialhistoriker etc. betrachtet werden würde, welche Aspekte er betonen würde, welche Fragen er stellen würde usw.
Als Aufgaben des Historikers verstehe ich (und gebe damit meine subjektive Meinung wieder):
Die (Er-)Forschung von subjektiven Wahrheiten (oft in Mikrogeschichte), d.h. genaue Studien eines Gegenstandes aus dem deutlich gemachten Standpunkt des Historikers heraus
Diese subjektive Wahrheiten sollten zueinander in Bezug gesetzt werden (Makrogeschichte); dieser Schritt wird meist nicht von demselben Historiker, der bereits Einzelstudien betrieben hat, vollzogen. Die beiden Herangehensweisen ergänzen einander. Erst wenn es Einzelstudien gibt, kann man Typologien, Vergleiche und weitere Perspektiven in den Blick nehmen. Und erst wenn man die Vergleiche, Typologien und den weiteren Blickwinkel hat, kann man eine Einzelstudie an dem Modell messen. Es hat etwas von einem PingPong-Spiel. Beide Richtungen müssen sich permanent den Ball zuspielen.
Die Deutung der Vergangenheit danach, welche Wahrheiten wie dominant zu einer bestimmten Zeit waren („Welche Trends?“). Ein Historiker „malt“ demnach ein Bild der Vergangenheit oder schreibt eine sog. „große Erzählung“, anhand derer sich jeder, der sich mit der entsprechenden Zeit beschäftigt, seine eigene Vorstellung entwickelt und später auch kritisch hinterfragt. Besonders dieser Punkt kann ethisch kritisch werden. Die Gelehrten der Renaissance bildeten so das Bild vom „finstren Mittelalter“, welches sich bis heute in den Köpfen vieler hält. Dabei wollten sie damit vor allem betonen, dass jetzt (also in der Renaissance) etwas Neues beginnt und das Alte endet. Eine wirklich wissenschaftliche, oder gar objektive Aussage war dies nicht.
Der Gegenwartsbezug der historischen Arbeit.
Dies ist ein umstrittenes Thema. Hat überhaupt und wenn, in welcher Art und Weise die Erforschung der Vergangenheit Bedeutung für die Gegenwart und die Zukunft?
Ich „glaube“ an anthropologische Konstanten, wobei es jedoch zugleich auch jeweils historisch bedingte Besonderheiten gibt. Die Frage ist dann, was sind die Konstanten des Menschen, und was ist historisch bestimmt? Ein bisschen vergleichbar mit der Frage, was in den Genen ist und was Erziehung?
Aufgrund dieser Vor-Annahme ist es auch Aufgabe des Historikers, spezifisch historisches (zeitgebundenes) heraus zu arbeiten, und damit auch Hinweise auf die anthropologischen Konstanten zu geben.
=> diese Konstanten ermöglichen bis zu einem gewissen Grad die Vergleichbarkeit historischer Situationen mit der Gegenwart; in diesem Sinne gilt auch „Historia magistra vitae“, seltener können gegenwärtige Situationen aus historischen Ereignissen hergeleitet bzw. zumindest erklärt werden
=> Frage nach der politischen Anwendbarkeit von historischer Arbeit: als Informationsbasis für Entscheidungen; als informierte Vermutung über Entscheidungs-Konsequenzen; Fähigkeit des Historikers, mehrere Seiten in den Blick zu nehmen, zu gewichten und zu kontextualisieren
Zum zweiten Fragenkomplex: Was sind meine eigenen Vor-Annahmen im Umgang mit der Vergangenheit?
Für mich ist die Betonung der Vielheit von Geschichten, die nebeneinander stehen und nur zusammen ein Bild von der Vergangenheit ergeben (=Pluralismus) sehr wichtig. Ich versuche, wenn ich einen Gegenstand betrachte, möglichst viele Perspektiven einzunehmen bzw. mir zumindest klar vor Augen zu halten, dass es viele Perspektiven – und damit auch viele Wahrheiten – gibt.
Daher lehne ich auch die Existenz objektiver Wahrheit ab, sondern sehe die Gleichzeitigkeit vieler subjektiver Wahrheiten. Ich muss daher immer spezifizieren, aus welcher Perspektive etwas betrachtet wird.
Diese unterschiedlichen Geschichten müssen nicht (sind es oft) miteinander verbunden sein. Die subjektiven Wahrheiten können auch einfach nebeneinander stehen, es muss keine Kausalität geben. Damit meine ich, dass weder die einzelnen Geschichten noch das Gesamtbild logisch sein muss oder vollständig kausal erklärbar: das Leben ist nicht logisch und auch Kausalitäten gibt es nur bis zu einem bestimmten Punkt, in dem Sinne, daß als kausal eine Handlung mit einem bestimmten Interesse dahinter verstanden wird (zweckgerichtete Handlung).
Und schließlich: die Möglichkeiten zur Handlung von (historischen) Menschen beruht auf dem Denkbaren; was zu einer bestimmten Zeit nicht denkbar ist, kann auch nicht getan werden (z.B. Menschenrechte oder technische Möglichkeiten). Das gilt natürlich auch für mich heute: ich kann mir eben nicht denken, was historische Menschen dachten, weil sie in einem anderen Kontext aufwuchsen. Und ich kann mir auch nicht denken, was die Fragen zukünftiger Historiker sein werden, da diese vielleicht in einer Welt mit fliegenden Autos aufwachsen 🙂
Dies also – zugegebenermaßen etwas unstrukturiert, und damit den täglichen Umgang mit Geschichte doch wieder sehr exakt wiedergebend – einige Überlegungen zu den Fragen und Aufgaben eines Historikers. Bei weitem nicht vollständig und gerne mit einem Kommentar ergänzbar. Und eben auch meine subjektive Meinung, die am Ende der Diss vermutlich sich noch weiter entwickelt haben wird und dann vielleicht auch andere Aspekte betont.